Ballade vom maskierten Glück

In einer Bahn, am Abend, auf der Fahrt von B nach A
wobei ihm A kein Ziel war, sondern nur ein Ort,
da sah er sie, zwei Reihen vor ihm, und was er sah,
gefiel ihm sehr, und dennoch sagte er kein Wort

Ihr Haar war lang und schwarz und ihre Mütze blau
Sie schlief wohl, denn die Lider waren geschlossen
Sie war schon auf den zweiten Blick sein Typ von Frau
denn auf Stirn und Nase blühten auch im Winter Sommersprossen

Mund und Hals waren unter Schal und Maske nicht zu sehen
In Notwehr dachte er sich rote Lippen aus und dann
zwei Grübchen, die man selbst beim besten Willen nicht verstehen
und nicht mit tausend Küssen füllen kann

Es kam ihm vor als kannte er sie lange schon
Etwas war an ihr, das ihn zutiefst aufwühlte
Die Bahn erreichte bald schon ihre Endstation
Sie würde nie erfahren, was er für sie schon fühlte

Noch bevor sie wach war, hat er den Zug verlassen
Schnell floh er zu einem Imbißstand
wo schon zwei andere gierig Bratwurst fraßen
und man im Alkohol ein wenig Tröstung fand

Als er den zweiten Bissen Wurst verspeiste
sah er sie mit Schrecken näherkommen
Es war, als ob er augenblicks vereiste
Er stand mit offnem Mund und fühlte sich benommen

Sie bestellte Wurst und Bier und zog die Maske runter
Da waren keine Grübchen und die Lippen waren nicht rot
Ein Schnauzbart war da, sah ihn an und sagte munter:
„Mensch, Junge! Wie lang ist’s her? Ich dachte, du seist tot!“

Ballad of Masked Happiness – On a train, in the evening, on the journey from B to A / whereby A was not a destination for him, but only a place / he saw her, two rows in front of him, and what he saw / he liked very much, and yet he said not a word / Her hair was long and black and her cap was blue / She must have been asleep because her lids were closed / She was his type of woman at second glance / for freckles bloomed on her forehead and nose even in winter / The mouth and neck could not be seen under the scarf and mask / In self-defense he thought up red lips and then / two dimples that you can’t understand even with the best will in the world / and cannot fill with a thousand kisses / It seemed to him that he had known her for a long time / There was something about her that disturbed him deeply / The train soon reached its terminus / She would never know what he already felt for her / Before she was awake, he left the train / He quickly fled to a food stand where two others were greedily eating bratwurst / and found some comfort in alcohol / When he ate the second bite of sausage / he saw her approach with horror / It was as if he froze instantly / He stood with his mouth open and felt light-headed / She ordered sausage and beer and pulled the mask down / There were no dimples and the lips were not red / A mustache was there, looked at him and said cheerfully / „Dude, boy! How long has it been? I thought you were dead!”

Abschied und Willkomm

O Weißwurst! Ich muss dich lassen
Ich vertrage dich nicht mehr
Ich liebte deinen blassen
Darminhalt so sehr!

Der Petersilien Würze
Des Kalbskopfs zarte Wangen
des Hochgenusses Kürze
sind fort nun und vergangen!

Des süßen Senfes Süße
des Häutelwerkes Gral
ich beweine und ich grüße
Euch heut ein letztes Mal

Der Arzt hat’s mir verboten
Groß Leid muss ich jetzt tragen
wie neide ich den Toten
die Absenz solcher Klagen!

Mein Freund ist mir genommen
der Sonntagmorgen Zier
doch weiterhin willkommen
sind Brezn mir und Bier!

Farewell and Welcome – Oh white sausage! I have to let you go / I can’t stand you anymore / I loved your pale intestinal contents so much! / The parsley seasoning / The calf’s head tender cheeks / The pleasure of your briefness / are gone now and gone! / The sweet mustard’s sweetness / the tissues Holy Grail / I mourn and I salute You today one last time / The doctor told me not to / I have to bear great sorrow now / how I envy the dead / the absence of such complaints! / My friend is taken from me / the Sunday morning ornament / but I still welcome pretzels and beer!

Versuch über die Disziplin

Rege des Morgens die Glieder zum Lärmen des Weckers
werfe das Ding an die Wand, krieche zurück in das Bett

Höre um neun Uhr den Alten die Mailbox beschimpfen
schließe mein Herz und mein Ohr, bleibe einfach im Bett

Auffahr gen Mittag mit Grausen aus schrecklichen Träumen
lasse ersticken den Schrei, falle zurück in das Bett

Quäle um Drei aus den Federn die sterbliche Hülle
denke nur kurz an den Tod, fliehe zurück in das Bett

Tropfe um fünf Uhr wie flüssiges Wachs auf den Boden
zieh mich am Dochte empor, schmelze zurück in das Bett

Ströme um acht Uhr osmotisch durch Wände zum Kühlschrank
siehe, der Kühlschrank ist leer, fließe zurück in das Bett

Nehme um Zehn aus dem Vorrat den Wecker für morgen
stelle ihn tapfer auf Acht, gehe zurück in das Bett

Wälze mich schlaflos im Bette bis morgens um Sieben
schlage den Kopf an die Wand, bis mich das Dunkel umfängt

Rege des Morgens die Glieder zum Lärmen des Weckers

Essay about discipline – In the morning I stir my limbs to the noise of the alarm clock, throw that thing against the wall, crawl back into the bed / At nine o’clock I hear the old man swearing on the mailbox, I close my heart and my ear, just stay in bed / Get up at noon with dread from horrible dreams, let the scream smother, fall back into bed / At three, torment the mortal shell from the feathers, just think about death for a moment, flee back to bed / Dripping on the floor like liquid wax at five o’clock, pull me up by the wick, melt back into the bed / Flow osmotically through walls to the refrigerator at eight o’clock, the fridge is empty, flow back into bed / Take tomorrow’s alarm clock from the store at ten, bravely set the alarm for eight, go back to bed / I toss and turn in bed sleepless until seven in the morning, bang my head against the wall until the darkness engulfs me / In the morning I stir my limbs to the noise of the alarm clock

Vom Leben

  1. Von der Jugend
    Wenn man jung ist, fehlen oft die Dings
    die, mit denen man was sagen tut
    und dennoch sprudelt’s aus dem Quell
    Ein Geheimnis wohnt an jedem unbekannten Dingsda
    in einem selbst wohnt nichts, nur Wut
    Einer wird drob düster, ein andrer kriminell

Verborgen noch des Lebens grüner Dingens
der, an dem die überreife Frucht
des Triebes sehnend sich errötet
während dünner Oberlippendings
wie ein Wald aus Draht zu sein sucht
und Rima Glottidis in falschen Tönen flötet

Die Einzige schaut stumpf als wär man dings
Der Alte plärrt und droht mit Gosse
stakkaten pocht der Takt des Lebens
und wie der Fisch in seinem Dings
rührt man von 9 to 5 die Flosse
und ahnt: Es ist vergebens

  1. Vom Rest
    Was dann geschieht, ist schnell erzählt:
    Schuften, Ring und Kindertränen
    und da nicht eines davon fehlt
    fehlt nichts, sich danach noch zu

Burnout, Scheidung, schlimmer Rücken
sind, was den Menschen wohl beseelt
den tief verborgnen Wunsch zu

Rente, Hirnschwamm, Letzteruhekissen
Da Wort, da dings nun fehlt
wird’s Zeit, sich endlich leise zu

Querdichter wider die Metrumsdiktatur

Befreit die Verse aus der Knecht-
schaft eitlen hohlen Silben-
zählens und des gar nicht kunstgerecht-
en Hebens, Senkens, Lautequälens!

Ja, lasst Vokale, Konsonan-
ten sich in Freiheit selbstent-
falten wider alle Ignoran-
ten, die das für verboten halten!

Trochäen, Jamben und Dakty-
len spinnen gleich den Kata-
klöthen, um des Dichters reiches Füh-
len mittels Versfuß abzutöten!

Ihr, die Ihr glatt seid und stählern
Lernt aus Euren Fählern!

Contrarion poet against the meter dictatorship – Free the verses from the slavery of vain hollow syllabic counting and not at all artistically stressing, unstressing, tormenting the tone! Yes, let vowels, consonants develop themselves in freedom against all ignorants who think that is forbidden! Trochees, iambs and dactyls spin like the klôthes, to kill the poet’s rich feelings with a verse foot! You who are smooth and steely learn from your meestakes!

Erschienen /published in tageszeitung taz 19.5.22

Steriles Gedicht

Dieses Gedicht ist absolut
keimfrei
Verse müssen nicht
keimen
um ein Gedicht zu
sein
Keime sollen bleiben
wo sie sind
aber nicht
hier

Sterile poem – This poem is absolute / germ-free / Verses don’t have to / germinate / to be a poem / Germs should stay / where they are / but not / here (silly wordplay with the german germs eh terms for germ and rime)

Wie Schiller einmal dem Goethe zum Geburtstag ein Gedicht machte

Schiller: Heute wird der Goethe 271 Jahr / das ist doch wirklich wunderbar!
Goethe: Ei Schiller! Was …
Schiller: Der Goethe ist ein Supermann / der einfach alles dichten kann!
Goethe: Mann, Schiller, fasse se sisch!
Schiller: Drum, Goethe, zu deinem Ehrentag / sollst wissen, wie sehr ich dich mag!
Goethe: Schiller! Du Färzverbeißer bringscht mi noch uff de Affestaa! Hörscht du uff!
Schiller: Na gut. – Von Osten will das holde Licht / nun glänzend uns vereinen
Goethe: Schon besser.
Schiller: Und schön’re Stunden fänd es nicht / als diesem Tag zu scheinen
Goethe: Momentsche! Des isch doch von mir! Du Hallebatsch, du Bohnesimpel du!

How Schiller once wrote a poem for Goethe’s birthday
Schiller: Today is Goethe’s 271 year / that’s why everbody wants to cheer!
Goethe: Um, Schiller! What …
Schiller: Goethe is a superman / therefore I’m his greatest fan!
Goethe: Man, Schiller, calm down!
Schiller: So, Goethe, on your special day / you should know that you are okay!
Goethe: Schiller! You are making me mad! Stop it!
Schiller: All right. – From the east the lovely light / wants to unite us now brilliantly
Goethe: Much better.
Schiller: And there would be no more beautiful hours / than this day
Goethe: Wait a minute! That’s mine! You bastard, you sucker!

Zur Abkühlung: Deutscher Winter

Leise rieselt der Schnee
Der Wald steht still und schweiget
kein Schiff auf hoher See
kein Mann sein Weib besteiget

Der Mond ist aufgegangen
Horch! Dort stirbt ein Reh
Rote Fahnen empfangen
an den Grenzen die rote Armee

Weißt du, wieviel Sternlein stehn?
Weißt du´s, dann tu keinen Mucks
Der rote Stern steht über Bethlehem

Sieh! Dort frisst die Gans den Fuchs
Über Mülhausen kreist ein Geier
Trauert ein Stück weit um Hanns Martin Schleyer

(Aus meinem Archiv von 1997)

For cooling down: German winter
Snow falls softly
The forest stands still and is silent
no ship on the high seas
no man mounts his wife

The moon has risen
Listen! A deer dies there
Red flags are receiving
the red army at the borders

Do you know how many little stars there are?
If you know, be quiet
The red star is over Bethlehem

See! There the goose eats the fox
A vulture circles over Mulhouse
Mourns a bit for Hanns Martin Schleyer

(From my archive of 1997)

Stoßgebet an den Zeichengott

All das Grauen – es soll sich schleichen
Und das Grau sei koloriert
All das Bunte – es soll nicht bleichen
Und das Blasse sei kariert
All das Halbe – es sei vollkommen
Und das Ganze sei halbiert
All das Klare – es sei verschwommen
Und das Dumpfe sei radiert

Arrow prayer to the god of sketching
All the horror – it should sneak up
And the gray is colored
All the colorful – it shouldn’t bleach
And the pale is checked
All half – it is perfect
And the whole thing is halved
All the clear – it is blurry
And the dull is erased

Mittag

Hoch vom Hügel schau ich ins Tal
und auf die Berge dort
die schöne Namen tragen

Wie rund und eckig
und wunderbar bewaldet
und still und kolossal

Denen dort ist es egal
Sie widmen sich in einem fort
rücksichtslos dem Selbsttransport
auf der Autobahn im Tal

(Aus meinem Archiv. Sommer 2000 in Rom)

Noon
High on the hill I look down into the valley
and on the mountains there
that have beautiful names

How round and angular
and wonderfully forested
and silent and colossal

It doesn’t matter to them there
They continue to dedicate themselves
to ruthless self-transport
on the highway in the valley

(From my archive. Summer 2000 in Rome)